BEDEUTUNG, CHANCEN, PRAXISFELDER

Den typischen Alten gibt es nicht mehr. Jeder definiert sich selbst nach dem, was er noch kann und will. Die Musikgeragogik bietet ein weites Betätigungsfeld bis ins hohe Alter und sorgt ganz nebenbei präventiv für mehr Lebensqualität.

Bis 2015 wird die Altersstruktur einem Pilz ähneln. Dann wird die Gruppe der 80 bis 85jährigen größer sein, als die der 5 bis 15jährigen. 

Musikgeragogik ist eine noch junge Disziplin im Schnittfeld von Musikpädagogik und Geragogik. Grundsätzlich geht es um altersspezifisch-didaktische Musikvermittlung und Musizierpraxis, die vom elementaren Bereich bis hin zu semiprofessioneller Musikausübung reicht, jedoch anders als in der Jugend darauf ausgerichtet ist, kognitive Fähigkeiten zu erhalten und Lebensqualität zu sichern. Dr. Thomas Goppel, Präsident des Bayerischen Musikrats, bringt es auf eine einfache Formel: „Wir können nicht früh genug anfangen, das vorhandene Kreativpotential älterer Menschen zu nutzen, zugunsten des eigenen Wohlempfindens und zum Nutzen der ganzen Gesellschaft.“  
 
Lebensqualität
Prof. Dr. Hans Hermann Wickel von der Universität Münster hat die Musikgeragogik zu seinem Arbeitsschwerpunkt gemacht. Den Begriff „Musikgeragogik“ erklärt er in Abgrenzung zum Begriff „Musikpädagogik“. Das Wort für „Knabe, Kind“ in Pädagogik, vom griechischen „pais“ abgeleitet“, wird durch „geron“, was „Alten“ bedeutet, ersetzt. Die Musikgeragogik zeigt somit Wege auf, sich im Alter musikalisch zu betätigen und zu bilden. Soweit ist der Anspruch an die Musikgeragogik identisch mit dem Anspruch an Musikpädagogik. Während der junge Mensch in der aktiven Beschäftigung mit Musik allerdings vor allem die Leistung im Blick hat, geht es dem älteren Menschen ausschließlich um den Aspekt der Lebensqualität, um ein Wohlfühl-  und Ausgleichsmoment des Alltages.
 
Hinzu kommt eine völlig andere Ausgangsposition. Musik im Alter umfasst die Vielfalt der Musik, wie man sie im Laufe eines Lebens kennen und schätzen lernt: Rock, Pop, Schlagermusik, Volksmusik, Kirchenmusik, klassische Musik bis hin zu Musical, Operette und Oper. Daraus resultiert ein umfassender Erfahrungsschatz, auch wenn sich der Einzelne mit Musik nie bewusst beschäftigt hat.
 
Kultureller Anspruch
Ein weiterer Aspekt ist die Definition von Alter und die damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten. Alterswissenschaftler sprechen mittlerweile vom dritten und vierten Lebensabschnitt. Das dritte Lebensalter beginnt ihrer Auffassung nach mit dem Ende der Berufstätigkeit und umfasst die sogenannten „jungen Alten“, „Best Ager“, „Silversurfer“, „Generation Gold“. Die Wirtschaft ist auf diesem Feld sehr kreativ, wohl wissend, dass dieser Kreis der Senioren ab 60 Jahren körperlich fit, unternehmungslustig, gebildet und selbstbewusst ist und am gesellschaftlichen Leben aktiv teilhaben möchte. Der Deutsche Kulturrat hat in diesem Zusammenhang ermittelt, dass diese Senioren nicht nur verstärkt kulturelle Angebote konsumieren, sondern auch künstlerisch und kreativ aktiv sind und vermehrt kulturelle Aufgaben übernehmen. Sie agieren als Vermittler von Traditionen und erweisen sich aufgrund ihrer Erfahrung als innovative und kreative Vordenker für zukünftige gesellschaftliche Aufgaben. Im Bereich der Musikgeragogik suchen sie nach fachkompetenten Anleitungen, um zu tun, was sie schon immer taten oder jetzt wollen, singen oder ein Instrument spielen, alleine, in der Gruppe, im Ensemble.  
 
Das vierte Lebensalter tritt etwa ab 75 Jahre ein, bzw. dann, wenn Krankheiten wie Demenz und Depression die Handlungsfähigkeiten einschränken. Dadurch nimmt die Mobilität ab, was bedeutet, dass in dieser Phase Bildungsangebote zu den alten Menschen kommen müssen. Damit gewinnen Musikangebote in Alteneinrichtungen an Bedeutung. Gerade im Bereich der Arbeit mit an Demenz erkrankten Menschen hat sich gezeigt, dass sich ein Zugang zum alten Menschen über die Musik als lebensbereichernd erweist.
 
Weichenstellungen
Ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, entsprechende Weichen zu stellen, damit alle an der Musik interessierten Senioren bis an ihr Lebensende am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilnehmen können, wie es auch im Artikel 27 der Charta der Vereinten Nationen formuliert ist, ist erst langsam im Wachsen.
 
Erstmals 2007 trat der Deutsche Musikrat unter dem Titel „Musizieren 50+ - im Alter mit Musik aktiv“ mit der Wiesbadener Erklärung an die Öffentlichkeit. U.a. forderte er die Verankerung der Notwendigkeit kultureller Angebote für ältere Menschen in den Programmen und Handlungsfeldern von Parteien, Regierungen und Parlamenten und wies darauf hin, dass über eine qualifizierte Aus- und Fortbildung mehr Musik in der sozialen Altenpflege, Rehabilitation und Therapie ermöglicht werden solle. Ergänzend bedürfe es einer Ausweitung der Angebote für ältere Menschen an Musikschulen, in allen Bereichen der Laienmusik und im Bereich der individuellen Musikausübung.
 
2008 folgte der Verband der bayerischen Bezirke und der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Bayern mit einer Resolution „Alter und Kultur“. In zehn Thesen übersetzten sie den Handlungskatalog des Deutschen Musikrats auf bayerische Verhältnisse. Die in den Thesen formulierte Absicht der Gründung eines Netzwerks „Alter und Kultur“ sowie weitere Zielsetzungen wurden aber nicht weiter verfolgt.
 
Musik gegen Demenz
2012 lud der Bayerische Musikrat zur Arbeitstagung „Musik kennt keine (Alters-)Grenzen“. Schwerpunkte bildeten eine grundsätzliche Erörterung der jungen Disziplin „Musikgeragogik“ und die Darstellung der Bedeutung von Musikgeragogik im Bereich der Arbeit mit an Demenz leidenden Menschen. Im selben Jahr startete der Verband Bayerischer Sing- und Musikschulen gemeinsam mit der Hochschule für Musik Würzburg einen ersten Zertifikationskurs „Musikgeragogik“ für Musikpädagogen mit der Zielsetzung, sich für „Musik mit alten Menschen und intergeneratives Musizieren“ zu qualifizieren. 2014 schließlich proklamierte der Verband Deutscher Musikschulen mit seiner Potsdamer Erklärung unter dem umfassenden Begriff der Inklusion eine Musikschule, die z. B. auch älteren Menschen voraussetzungslos grundlegende ästhetische Erlebnisse und Erfahrungen ermöglicht, indem sich bei der immobilen Zielgruppe durchaus eine Kultur der Bringe-Struktur entwickelt. Konkret heißt dies, dass die Musikschullehrer aus ihrer Schule heraus und in die Alteneinrichtungen hineingehen.
 
Sinnerfüllendes Musizieren
2015 folgte eine Informationsveranstaltung des Bayerischen Musikrats im bayerischen Landtag mit dem Ziel, politischen Verantwortlichen und Trägern von Sozialverbänden zu zeigen, was zwischenzeitlich Musikschullehrer und freie Pädagogen im Bereich der Musikgeragogik erfolgreich leisten, und um die Teilnehmer untereinander zu vernetzen. Im April 2016 richtete der Bayerische Musikrat neuerlich seine Arbeitstagung auf dieses Thema aus. Jetzt ging es um die positiven Wirkungen der Musikgeragogik auf die aktiven Senioren in der praktischen Musikausübung und im Konzertgeschehen.
 
Menschliches Altern
In allen Foren unterstrich der Präsident des Bayerischen Musikrats, Dr. Thomas Goppel, dass alle Aufgabenfelder der Musikgeragogik im Ergebnis ausschließlich darauf zielen, das Leben älterer und möglicherweise auch pflegebedürftiger Menschen handlungsfähiger und menschlicher zu gestalten. Grundlegende Voraussetzungen dazu sind flächendeckende Angebote sowohl im Bereich der Kulturträger wie der Instrumental- und Vokalpädagogik, der Chöre und Blasmusikvereine, Streichorchester und anderer Musikgruppen im Laienbereich, geschultes Fachpersonal für die Arbeit in Alten- und Pflegeheimen, bei allen Angeboten einen barrierefreien Zugang, auch finanziell, räumlich und zeitlich, und eine musikalische Erziehung, in der es einzig darum geht, den Einzelnen in seiner Freude an der aktiven Musikausübung nach allen Regeln des Könnens zu fördern. Die lange Liste der Möglichkeiten offeriert Impulse ohne Ende. Dass die Qualität, die hier unverzichtbar ist, nicht zum Nulltarif zu haben ist, sei ihm bewusst, so Thomas Goppel, aber die Investition sei ja nicht selbstlos. Thomas Goppel: „Schließlich wollen wir auf Kultur als Gestaltungsanteil des Alltags nicht verzichten, wenn wir selbst alt werden."